Das Ende der Zwei-Staaten-Regelung?

Interview

Seit dem 1. Juli kann die israelische Regierung die Annexion von Teilen des Westjordanlandes beschließen. Welche Auswirkungen werden die israelischen Annexionspläne haben? Was bedeuten sie für Palästinenser/innen und Israelis? Ein Gespräch mit unseren Büroleitungen in Ramallah und Tel Aviv.

Jerusalem, Israel

“Land gegen Frieden”, “zwei Staaten für zwei Völker”, “ein palästinensischer Staat an der Seite Israels” mit diesen Sätzen wurde bislang der Weg beschrieben, der zu einer Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts führen sollte. Der vor mehr als 25 Jahren begonnene Oslo-Friedensprozess sollte in einer Zwei-Staaten-Lösung münden. Dieses Ziel wird auch von der internationalen Staatengemeinschaft, darunter Deutschland und die Europäische Union, unterstützt. Doch die Vision vom lebensfähigen palästinensischen Staat an der Seite Israels ist Makulatur, wenn Israel den Plan von Ministerpräsident Netanjahu umsetzt und Teile des besetzten Westjordanlandes annektiert. Unsere Büroleiter/innen in Tel Aviv und Ramallah, Steffen Hagemann und Bettina Marx, erklären, welche Auswirkungen ein solcher völkerrechtswidriger Schritt hätte. Das Gespräch führte Bente Scheller, Leiterin des MENA-Referats der Heinrich-Böll-Stiftung. 

Bente Scheller: Vielen Dank, Bettina und Steffen, dass ihr dabei seid und uns Auskunft über den aktuellen Stand gebt. Bettina, wie und worüber wird gerade bei euch diskutiert?

Bettina Marx: Die Entscheidung, ob Israel Teile des Westjordanlandes annektiert oder nicht, ist für die Palästinenser/innen natürlich existentiell, und das ist meiner Meinung nach auch der Kern der Auseinandersetzung. Wenn Israel Teile des Westjordanlandes annektiert, egal in welcher Größe, dann bedeutet das, dass die Zwei-Staaten-Lösung vom Tisch ist, dann wird es also diese vereinbarte Lösung, die auch von der internationalen Staatengemeinschaft so unterstützt und mitgetragen wird, nicht mehr geben, und die Idee dieses eigenen palästinensischen Staates ist vom Tisch. Dann stellt sich für die Palästinenser/innen die Frage: Was jetzt? Wohin wollen sie jetzt gehen, was wollen sie jetzt anstreben? Selbst, wenn Israel den Palästinenser/innen in den zu annektierenden Gebieten die Staatsbürgerschaft gewähren würde, was wahrscheinlich nicht der Fall sein wird, aber mal angenommen, es würde passieren, dann würde es dennoch bedeuten, dass sie eine untergeordnete Rolle spielen würden, weil im jüdischen Staat Israel die Palästinenser/innen kein Recht haben, ihre nationalen Bestrebungen umzusetzen. 

Das würde heißen, dass das, was sie sich wünschen – einen eigenen Staat, Selbstbestimmung, das, was ihnen auch garantiert ist vom internationalen Recht –, dass sie das nicht erreichen können. Und das ist glaube ich auch der Grund, warum viele Palästinenser/innen sehr verzweifelt in die Zukunft gucken. 

Im Moment sehen sie, dass alles, worauf sie in den letzten 20, 25 oder vielleicht sogar schon 53 Jahre gehofft haben, vor ihren Augen zerstört wird. 

Steffen, wie entwickelt sich die Diskussion darum bei euch? 

Steffen Hagemann: Es gibt drei interessante Punkte. Erstens finde ich bemerkenswert, wie sich der israelische Diskurs so verschoben hat, dass wir heute über Annexion als realistische Option und ihr Ausmaß diskutieren. Dies war ja vor wenigen Jahren noch eine Position, die zumindest offensiv nur von sehr wenigen und nur am rechten Rand vertreten wurde. Die Forderung zumindest Teile der besetzten Gebiete zu annektieren, ist inzwischen also im Mainstreamdiskurs angekommen, es zeigt sich ein Prozess der Normalisierung dieser Forderung nach einer De-jure-Annexion. Der Likud als Partei zum Beispiel hat dies dann spätestens seit 2017 auch offiziell als Position übernommen. Da sehen wir eine deutliche Veränderung im israelischen Diskurs. 

Ein zweiter interessanter Punkt ist, dass es zwar schon eine kontroverse Diskussion zwischen Befürwortern und Gegnern gibt, dass aber in der israelischen Gesellschaft auch ein relativ großes Lager eher unentschieden oder unschlüssig ist. Das hängt auch damit zusammen, dass eine Mehrheit der israelischen Bevölkerung einen grundsätzlichen Anspruch auf das Westjordanland für Israel reklamiert. Es ist auch immer die Position des Arbeiterzionismus gewesen, dass es grundsätzlich einen historischen Anspruch gibt. Zugleich ist für viele Befürworterinnen und Befürworter der Zwei-Staaten-Regelung in den 1990er Jahren die Hoffnung auf eine Zwei-Staaten-Regelung inzwischen geplatzt. Es hat sich eine Desillusionierung entwickelt, die natürlich auch politisch gefüttert ist. Ich erinnere nur an das berühmte Diktum von Ehud Barak – „es gibt keinen palästinensischen Partner“. Hinzu kommt, dass sich viele Israelis in den letzten Jahren eigentlich ganz gut eingerichtet haben mit einer Politik des Konfliktmanagements, man konnte den Konflikt eigentlich ziemlich weit verdrängen. Er hat im Alltag von vielen Israelis kaum eine Rolle gespielt, was auch damit zusammenhängt, dass Israel die vollständige Sicherheitskontrolle über die besetzten Gebiete ausübt und das Gewaltniveau für die israelische Zivilbevölkerung deutlich gesunken ist. Gleichzeitig haben wir diesen Prozess der De-facto-Annexion gehabt, der aber in der Öffentlichkeit relativ wenig präsent war. Das führt dazu, dass viele grundsätzlich eigentlich diesen Anspruch auf das Territorium befürworten, zum anderen jedoch jetzt fragen, ob dieser Schritt der Annexion nicht eigentlich diese vermeintlich sichere und stabile Situation des letzten Jahrzehnts gefährdet. 

Das dritte Interessante ist, dass eine de jure Annexion von Teilen des Westjordanlandes zwar schon eine Art Wendepunkt darstellt, weil es jetzt darum geht, ob eine endgültige Entscheidung getroffen wird, was mit diesem Territorium passieren wird: Ob es eine offizielle Grenzziehung geben wird oder nicht – und weil es eben, wie Bettina gesagt hat, auch das Ende der Zwei-Staaten-Regelung bedeuten würde. Man darf allerdings nicht vergessen, wir auch ein hohes Maß an Kontinuität haben. Seit 1967 hat Israel bereits zwei Mal annektiert, den Golan und Ost-Jerusalem, zudem sehen wir den schleichenden Prozess der De-facto-Annexion und in den letzten Jahren auch einen graduellen Prozess der De-jure-Annexion. Was sich jetzt verändert hat ist, dass die Zukunft der besetzten Gebiete zumindest wieder ein politisches Thema geworden ist: Soll es einen palästinensischen Staat geben? Wo liegen die Grenzen Israels? Und gibt es Alternativen zu der Zwei-Staaten-Regelung? Das sind jetzt Fragen, die in die politische Debatte eingeführt worden sind.

Früher haben wir schon mal darüber gesprochen, dass der Trump-Plan im Prinzip grünes Licht für die Annexion gibt. Ist das etwas, was in Israel als gesetzt angesehen wird, oder gibt es da auch noch ein Zögern, was nicht innenpolitisch bedingt ist, sondern weil man Richtung USA schaut und auf ein weiteres Signal wartet?

Steffen Hagemann: Das ist letztlich entscheidend. Die Koordination mit den USA ist die eine Bedingung, die im Koalitionsabkommen festgeschrieben wurde, und derzeit besteht ein hohes Maß an Unsicherheit, was die Trump-Administration jetzt eigentlich genau möchte. Ich denke, es ist ziemlich klar, dass der amerikanische Botschafter in Israel, David Friedmann, für eine möglichst weitreichende Annexion ist, das ist auch eine eigene Positionierung von ihm. Jared Kushner hingegen ist zwar nicht gegen Annexion, aber möchte auch nicht die Annäherung an die arabischen Staaten gefährden. Er sieht den Nahostplan von Donald Trump durchaus als ein Gesamtwerk und als einen größeren regionalen Plan, der als Ganzes umgesetzt werden soll. Vor diesem Hintergrund gibt es dann auch auf Seiten der Siedler/innen durchaus Widerstand, weil zumindest auf dem Papier Trump ja die Entstehung eines palästinensischen Staates vorsieht, auch wenn es kein wirklich souveräner Staat ist und so viele Bedingungen daran geknüpft sind, dass es eigentlich keine realistische Option ist. Nichtsdestotrotz gibt es auf Seiten der Rechten auch Gruppen, die jegliche territorialen Kompromisse ablehnen. Sie organisieren gerade eine Kampagne, „Alles gehört uns!“ , und protestieren gegen den Nahostplan von Trump und eine nur teilweise Annexion. Hinzu kommt, dass für Trump natürlich die Frage ist, was eine Annexion innenpolitisch angesichts des bevorstehenden Wahlkampfes bedeutet. Trump muss in der evangelikalen Wählerschaft eine sehr hohe Zustimmung haben, wenn er überhaupt eine Chance haben möchte, die Wahl zu gewinnen. Die Frage ist, würde ihm eine Annexion nützen, und wie müsste diese aussehen, damit sie tatsächlich ein Pluspunkt wird? Es gibt nicht wenige, die glauben, aufgrund der Entwicklungen der letzten Wochen – Corona, die Anti-Rassismus-Proteste, dass Annexion sozusagen ein bisschen an Bedeutung für Trump verloren hat. Das heißt nicht, dass es nicht zu einer Annexion kommen wird, aber es ist glaube ich auch noch ein Aushandlungsprozess.

Bettina Marx: Ich sehe es ganz ähnlich. Ich glaube, dass Trump sich nur für eines interessiert, nämlich seine Wiederwahl, und dass er alles dem unterordnet. Wenn ihm eine Annexion bei seiner Wählerschaft etwas nutzt, dann wird er sicher dort endgültig grünes Licht geben und die israelische Regierung unterstützten. Wenn er den Eindruck hat, es könnte ihm schaden, denke ich, dass er da eher in die Speichen greifen wird. Ich glaube, dass er wirklich alles andere dieser einen Sache unterordnet. Ich frage mich bloß, was das eigentlich für Israel bedeutet. Wenn Israel jetzt, sagen wir, Teile des Westjordanlandes, vielleicht Teile des Siedlungsblocks oder das Jordantal und einzelne oder alle Siedlungsblocks annektieren würde, welche Grenzen würde Israel dann haben und wie soll die Sicherheit in diesen Grenzen gewährleistet werden? Was bedeutet das für die Länder, die mit Israel zu tun haben? Welches Israel in welchen Grenzen erkennen sie an? Das sind so viele Fragen, die sich hier stellen, nicht nur in Bezug auf die Palästinenser/innen, die für mich hier größte Priorität haben, sondern auch darüber hinaus, dass ich mich frage, was das eigentlich für eine Schnapsidee ist, und ob es überhaupt Israel selbst etwas nützt, diese Annexion jetzt de jure umzusetzen. De facto, das hatte Steffen ja schon gesagt, haben wir bereits Annexion und für die Palästinenser/innen ist das de facto ja jetzt schon so, dass sie sich in den besetzten Gebieten, den sogenannten C-Gebieten, die jetzt zur Annexion anstehen, die nach den Oslo-Abkommen unter israelischer Verwaltung und israelischer Sicherheitskontrolle stehen, dass sie in diesen Gebieten absolut keine Rechte haben. Sie können dort nicht bauen wie sie wollen, sie können dort ihr Land nur bewirtschaften wenn es der Besatzungsmacht gefällt; sie können sich nicht frei von einem Ort zum anderen bewegen. Das alles würde durch die Annexion extrem verschärft, es ist de facto jedoch jetzt schon da. 

Die Palästinenser/innen kennen also diese Situation schon, eine de jure Annexion ist aber trotzdem noch mal ein Schritt mehr und wird den Siedlern z.B. noch mehr Rechte verleihen, als sie ohnehin schon haben, z.B. - das ist sehr zentral – das Recht zu bauen, das Recht, die Siedlungen auszubauen. Sie können jetzt zivile Planungsprozesse einführen, wenn dieses Gebiet annektiert ist und müssen nicht mehr Genehmigungen der Militärverwaltung einholen, und das erleichtert natürlich ungemein, dass die Siedlungen ausgebaut werden und dass palästinensisches Land konfisziert wird, für den Bau von Siedlungen und von Straßen. 

Damit wären wir auch schon bei der Frage: Welche Szenarien sind vorstellbar? Was können wir bereits über die nächsten Schritte wissen oder antizipieren?

Bettina Marx: Man kann es auf drei Szenarien herunterbrechen. Das Jordantal steht auf jeden Fall zur Debatte, das ist ja die Grenze zu Jordanien, der Weg entlang des Jordanflusses, wo die Israelis große Interessen an den natürlichen Ressourcen haben, die dort vorkommen – Wasser, fruchtbarer Boden -, eine Gegend, die aber auch in Sicherheitsfragen relevant ist. Es gäbe aber auch die Möglichkeit, dass ‚nur‘ die Siedlungsblocks, als zum Beispiel der Siedlungsblock Maaleh Adumim bei Jerusalem oder Gush Etziyon zwischen Hebron und Bethlehem annektiert werden, oder eben beides. Die Befürchtung auf palästinensischer Seite ist ein bisschen, dass Netanyahu sich für eine „Annexion light“ entscheidet, also für einen kleineren Schritt, in der Hoffnung, dass die internationale Staatengemeinschaft dann erstmal aufatmet und sagt, na so schlimm, wie wir befürchtet hatten, ist es ja nicht gekommen, und er dann nicht unmittelbar den großen Protest zu gewärtigen hat. Aber wir dürfen uns da nichts vormachen: Auch ein kleiner Schritt der Annexion ist eine Annexion, ist ein Verstoß gegen das Völkerrecht, und ist nur der Auftakt. Es wird dann in einer Salamitaktik weitergehen, und es wird so viel annektiert, wie Israel eben haben möchte. Es wird da keine Grenzen geben – nur wird es vielleicht nicht sofort passieren. Ohnehin ist nicht gesagt, dass es jetzt passieren muss, wir haben eine Zeitspanne bis Januar, innerhalb derer das passieren kann, aber nicht muss – bis der neue US-Präsident ins Amt kommt – wenn es einen neuen Präsidenten geben sollte.

Steffen Hagemann: Die Risiken eines solchen Schrittes, einer weitreichenden Annexion, werden auch in Israel diskutiert und es gibt Widerstand, insbesondere auch aus den Sicherheitsinstitutionen. Da ist das zentrale Argument, dass ein solcher Schritt große Risiken birgt und z.B. zu einer Eskalation im Westjordanland führen könnte. Die Hamas hat ja bereits gesagt, dass jegliche Annexion einer Kriegserklärung gleichkommt. Zudem könnte es zum Ende der Sicherheitskooperation bis hin zum Kollaps der palästinensischen Autonomiebehörde kommen, was bedeuten würde, dass Israel in Folge die Verantwortung für die 2,7 Millionen Palästinenser/innen wieder übernehmen müsste, es würde laut Trump-Plan eine Grenze entstehen, die 1.600 km lang ist und die kaum oder nur unter großem Aufwand zu verteidigen ist. Der Friedensvertrag mit Jordanien, die Annäherung an Saudi Arabien und einige Golfstaaten könnten gefährdet sein, die sicherheitspolitischen Risiken sind also sehr groß und deswegen gibt es viele, die sagen, ein solcher Schritt liege auch gar nicht im Interesse Israels, Israel gewinne eigentlich nichts, verliere aber sehr viel. Das ist das eine Kernargument gegen eine weitreichende Annexion. Das zweite – das kommen wiederum eher aus dem linken Lager – ist, dass letztlich eine weitreichende Annexion zur Entwicklung eines Apartheidstaates führen wird und damit eine Gefahr für die israelische Demokratie darstellt. Das ist ein Argument, das Netanyahu so natürlich nicht teilt, aber ich glaube, dass die Regierung durchaus empfänglich ist für die Sicherheitsargumente und schon auch Kosten-Nutzen gegeneinander abwiegt. Deswegen ist meines Erachtens in der jetzigen Konstellation eher mit einem begrenzten Schritt zu rechnen ist. Aber Netanyahu wird etwas tun, weil er eine hohe Erwartungshaltung bei seinen Anhängerinnen und Anhängern geschürt hat, und zum zweiten geht es ihm darum, das, was mit dem Trump-Plan seines Erachtens erreicht wurde – und das ist eben, dass die ganzen Koordinaten einer verhandelten Konfliktlösung die eigentlich international Konsens waren, mit diesem Nahost-Plan abgeräumt wurden – nun zu sichern und den Trump-Plan zum Ausgangspunkt jeglicher weiterer Überlegung machen. Deswegen wird Netanyahu auf jeden Fall etwas tun müssen.

Die Wichtigkeit der USA in dieser Frage haben wir bereits angesprochen, Nachbarländer wie Jordanien gestreift – aber wie steht es um andere? Was ist von den Golfstaaten zu erwarten, und was von der EU oder auch spezifisch Deutschland?

Bettina Marx: Ich fürchte, es wird nicht so viele Reaktionen geben. Es wird sicherlich verbale Reaktionen wie Verurteilungen geben, aber nicht viel mehr. Das Land, das wirklich am meisten von den Entwicklungen betroffen ist, ist Jordanien, weswegen wir von dort die stärkste Reaktion erwarten können, denn es hat unmittelbare Auswirkungen auf die Stabilität Jordaniens, die wirtschaftliche und soziale Stabilität, wenn z.B. eine neue Flüchtlingswelle zu erwarten wäre. Bei den anderen Staaten bin ich mir nicht so sicher, wie scharf die Reaktionen ausfallen werden. Die Vereinigten Arabischen Emirate haben in einem sehr ungewöhnlichen Schritt schon an die israelische Bevölkerung geradezu appelliert und vor diesem Schritt gewarnt, dass sie ihren Prozess der Annäherung und Normalisierung so nicht werden fortsetzen können, wenn die Annexion tatsächlich stattfindet, aber im Grunde ist das alles ziemlich milde. Ägypten, da ist völlig unklar, ob sie wirklich den Friedensvertrag in Frage stellen werden. Ägypten hat im Moment ja andere Probleme. Es ist sehr stark in den Konflikt in Libyen involviert oder auch mit Äthiopien. Ob die Annexion derzeit für Ägypten so ein großes Problem darstellen wird, ist darum nicht klar. 

Für die europäische Union müsste eigentlich klar sein, dass das nicht hinnehmbar ist, aber was soll sie mehr tun, mehr als protestieren und Verbalnoten schicken? Es ist nicht zu erwarten, dass sie z.B. Sanktionen verhängt, weil es in der EU keine Einigkeit gibt. Ich fürchte, dass die Palästinenser/innen von den anderen Regierungen ziemlich alleine gelassen sind - aber durchaus nicht alleine gelassen von der Zivilgesellschaft! Hier ist es meines Erachtens doch klar, dass große Teile der Zivilgesellschaften in Europa aber auch den USA diesen Schritt doch ablehnen und sich dann eher an die Seite der Palästinenser/innen stellen und Solidarität üben. Sie sind nicht diejenigen, die Politik formulieren, aber sie können Druck ausüben. Das wird vielleicht nicht sofort Auswirkungen haben, aber es wird Auswirkungen haben auf die Wahlen in den Vereinigten Staaten. 

Was wird eine Annexion im Alltag eurer Gesellschaften bedeuten? 

Bettina Marx: Es ist zu befürchten, dass Palästinenser/innen, die in den zu annektierenden Gebieten leben, möglicherweise vertrieben werden. Sie werden nach allem, was wir wissen, also weder israelische Bürger/innenrechte noch beschränkte Rechte wie z.B. die Palästinenser/innen im annektierten Ostjerusalem erhalten. Netanyahu hat selbst gesagt, sie werden „die Untertanen Palästinas“ bleiben – was heißt das? Wie werden sie denn das umsetzen können? Welchen Zugang werden sie zu Ressourcen oder Bildung haben? An welche Schulen, welche Universitäten werden sie gehen, und welche Gesundheitsversorgung wird für sie zuständig sein? Gerade in dieser Corona-Zeit ist das von großer Bedeutung. Welche Straßen werden sie nutzen können? Welche Ausweise benötigen sie, um sich überhaupt bewegen zu können? Für die Palästinenser/innen wird dieser Schritt der Annexion also dramatische Auswirkungen haben. Sehr viele werden wahrscheinlich ihr Land verlieren, weil die Siedlungen sich ausdehnen werden. Der Zugriff auf palästinensisches Land wird massiv erleichtert, es kann in Zukunft viel leichter Land konfisziert werden. Wir sprechen hier von einer Zahl von bis zu 200.000 Palästinensern und Palästinenserinnen, die von einer Annexion betroffen sein können. Unter dem Druck, dass sie nicht mehr dort leben können, wo sie im Moment leben, werden sie in die Städte ausweichen müssen, und werden dort dafür sorgen, dass diese sich weiter verdichten, dass es dort noch enger, noch schwieriger wird, die Arbeitslosigkeit ebenso wie der Druck auf Dienstleistungen steigen wird. Insgesamt wird es zu einer weiteren Schwächung der palästinensischen Wirtschaft und vermutlich zu einer Verarmung der ohnehin schon sehr schwachen, verletzlichen palästinensischen Gesellschaft führen. 

Und wenn ich es recht verstehe, dürfte selbst eine begrenzte Annexion wie z.B. Maaleh Adumim weitreichende Konsequenzen haben, weil sie die palästinensischen Territorien weiter aufspaltet. 

Bettina Marx: Das würde bedeuten, dass das palästinensischen Gebiet durchtrennt wird, also der Norden des Westjordanlandes vom Süden abgeschnitten wird. Vorhin war schon die Rede von dem Apartheidsbegriff, vielleicht sollten wir uns vor Augen rufen, das Apartheid auch eine Bantustan-Lösung bedeutet, also dass die Palästinenser/innen in Homelands-ähnlichen kleinen Bantustans eingesperrt werden, die nicht miteinander verbunden sein werden. Und es ist zu befürchten, dass in diesen Bantustans dann sozusagen Warlords herrschen werden, die ihren kleinen Bereich beherrschen, und es zu einer kompletten Fragmentierung, einer Aufsplitterung der palästinensischen Gesellschaft führen wird, was natürlich auch bedingt, dass der Widerstand dagegen sehr viel schwieriger wird, was natürlich im Interesse Israels liegt. 

Steffen Hagemann: Für viele Israelis wird sich vermutlich wenig ändern, es sei denn es kommt zu einer Gewalteskalation. Dann wären natürlich auch die Israelis direkt betroffen. Ansonsten ist das was in den besetzten Gebieten passiert, für viele weit weg und hat wenig Relevanz im Alltag und lässt sich deswegen auch sehr einfach verdrängen. Was ganz interessant ist, ist dass es heute einen spiegelbildlichen Diskurs unter den Siedlern zum palästinensischen Diskurs gibt. Das, was Bettina gesagt hat, beklagen die Siedler: Wenn der Trump-Plan umgesetzt wird, entstehen kleine israelische Enklaven im palästinensischen Territorium. Dies sei nicht lebensfähig, die Mobilität sei nicht gewährleistet, weil man aus den kleinen Siedlungen große Umwege fahren müsse, um in die großen Zentren zu kommen. Deswegen sei der Trump-Plan keine tragfähige Konfliktregelung. Es ist ganz interessant, sich das zu vergegenwärtigen – ohne, dass dabei die Siedler ein Verständnis für die palästinensische Situation entwickeln würden. Aber es spiegelt diesen Diskurs. Es zeigt eben auch, dass das ganze Siedlungsprojekt letztlich darauf angelegt ist, einen palästinensischen Staat zu verhindern.

Bettina Marx: Noch eine Anmerkung zu einer möglichen Gewalteskalation: Wir haben bereits eine Eskalation, über die wir im Westen aber nicht viel reden: Wir sehen ein dramatisches Anwachsen von Siedlergewalt gegen Palästinenser/innen. Sie brennen palästinensische Felder nieder, hacken Olivenbäume ab, zerschneiden Autoreifen, wir haben wirklich einen dramatischen Anstieg. Wir hatten neulich schon die Situation, dass auf einmal schwer bewaffnete israelische Siedler in Ramallah auftauchten – wozu soll das führen? Was wird erwartet? Dass die palästinensische Polizei diese Siedler mit Waffengewalt vertreibt? Da gehen wir schon fast in Richtung bürgerkriegsähnlicher Zustände. Ich sehe einen solchen Bürgerkrieg zwar nicht voraus, die Palästinenser/innen sind dafür nicht gerüstet und nicht annähernd bewaffnet. Aber es ist wichtig, zu verstehen, dass die palästinensische Zivilgesellschaft im Grunde schon immer mit dieser Gewalt leben muss. Insbesondere in den letzten Wochen und Monaten, seit von Annexion die Rede ist, glauben die Siedler offensichtlich, sie hätten einen Freibrief, und die Gewalt ist enorm angestiegen. Wenn wir jedoch über Gewalt reden, haben wir meistens eher die Gewalt der Palästinenser/innen gegen die Besatzung im Kopf und nicht die strukturelle und tägliche Gewalt Israels gegen die Palästinenser/innen. 

Wie gehen die Partner/innen eurer Büros mit der Situation um?

Steffen Hagemann: Unsere Partner sind natürlich gegen die Annexion engagiert, aber die Kernbotschaft unserer Partner/innen ist, dass wir uns jetzt nicht nur gegen Annexion wenden können, sondern dass wir uns grundsätzlich gegen die Besatzung engagieren und für ein Ende der Besatzung einsetzen müssen – damit nicht so etwas passiert, dass wenn die Annexion nicht oder nur in kleinerem Umfang stattfindet, man sich zurücklehnt und denkt, man hätte nun das Schlimmste verhindert. Die de facto Annexion geht aber im Alltag weiter. Das ist ein zentraler Punkt, auf den unsere Partner/innen hinweisen. Der zweite Punkt ist, ich hatte das vorhin schon gesagt, dass Israel Gefahr läuft, sich zu einem Apartheidsstaat zu entwickeln, und dieser Begriff des Apartheidsstaates wird nicht leichtfertig benutzt. Wir haben schon jetzt eine Situation von zwei unterschiedlichen, parallelen Rechtssystemen, und die Besatzung würde dies verfestigen und unter Umständen institutionalisieren, und das ist eine existenzielle Gefahr für die israelische Demokratie, die von unseren Partner/innen sehr ernst genommen wird. Zudem ist interessant, dass wir eine Verknüpfung haben mit der Debatte in Israel über den Charakter des Staates insgesamt, die Frage der Gleichheit aller Staatsbürger/innen, die Frage, welche neuen Bündnisse eigentlich möglich sind, Bündnisse auch mit den arabischen und palästinensischen Israelis, die auf Gleichheit und Gerechtigkeit beruhen. Das ist ein neuer Diskurs, der sich in den letzten Jahren in Israel gezeigt hat, auch in den Wahlen, ein Diskurs, der auch von Ayman Oudeh, dem Vorsitzenden der Gemeinsamen Liste, verkörpert wird, der sich zu einem Hoffnungsträger auch für viele linke Israelis entwickelt hat. Das sind sehr interessante Entwicklungen, die auch konzeptionell noch mal die Verknüpfung herstellen zwischen der Besatzung und der Situation der israelischen Gesellschaft, und die ganz grundlegend noch mal fragen, wie wollen wir – jüdische Israelis, palästinensische Israelis – wie wollen wir eigentlich in diesem engen Territorium zusammenleben, so dass die individuellen und kollektiven Rechte aller Menschen gewährleistet werden, und das ist auch eine sehr positive Entwicklung.

Bettina, wie ist das bei euch?

Bettina Marx: Das ist bei uns ganz ähnlich. Meine Partner werden sich freuen, wenn sie wissen, wie die Partner/innen von Steffen in Tel Aviv das sehen, weil das natürlich auch genau der palästinensischen Haltung entspricht, eine friedliche Lösung zu finden, die beiden Völkern Rechte einräumt, eben nicht nur Bürger/innenrechte, sondern auch die politischen Rechte, die Selbstbestimmungsrechte. Meine Partner sehen mit großer Sorge, großen Ängste auf das, was jetzt passiert, weil es natürlich auch Auswirkungen auf sie haben wird. Wie soll man damit umgehen? Was wird es bedeuten, wenn Teile des Westjordanlandes annektiert sind, kann man mit den Communities, die dort sind, noch in Kontakt sein, kann man mit ihnen noch arbeiten? Können wir als Stiftung dort noch arbeiten und unsere Partner erreichen? Wie soll das alles weitergehen? Werden wir in Israel Genehmigungen einholen müssen, wenn wir mit ihnen in Kontakt sind? Für die internationalen Nichtregierungsorganisationen ist das eine große Sorge, was eigentlich passiert, wenn das umgesetzt wird. Jetzt im Vorfeld einer möglichen Annexion, wo sich die Debatten zuspitzen, beobachte ich ein großes aktivistisches Bündnis. Palästinenser/innen wenden sich an die Zivilgesellschaften im Ausland und auch die aktive Zivilgesellschaft in Israel. Ich habe in letzter Zeit an so vielen Online-Seminaren teilgenommen, bei denen Vertreter/innen der Palästinenser/innen und Israelis und Leute aus anderen Konflikten, z.B. Kashmir, oder Amerikaner aus der #BlackLivesMatter-Bewegung zusammengekommen sind. Der palästinensische Freiheitsdiskurs schließt an andere Diskurse an, die im Moment weltweit stattfinden, ganz stark auch an diese ganze Debatte um Entkolonialisierung. Ich glaube, dass die Palästinenser/innen jetzt, mitten in dieser dramatischen Krise einen neuen Anschluss an Zivilgesellschaften in der Welt und auch neue Solidarität finden.